Mai 30, 2008

Der Mensch ist, was er isst?

Zeit:

"Der Mensch ist, wie er ißt" - eine alte Volksweisheit, die von zahlreichen Vorurteilen geprägt ist. So stellt man sich den Weintrinker als sinnlichen Genießer vor, während Rohköstler mit dem Stigma des verbiesterten Mümmelathleten leben müssen und weiblichen Schoko-Anhängern eine frustrierte Sexualität unterstellt wird.

Wissenschaftler wollen sich den Legenden nicht unbedingt anschließen, allerdings deuten ihre Forschungsergebnisse durchaus in ähnliche Richtungen. Umfragen in den USA ergaben, daß dort jeder zweiten Frau ein Stück Schokolade wichtiger sei als Sex. Fraglich ist, ob das auch in Europa stimmt. Als gesichert gilt aber, daß Frustrationen generell unsere Neigung erhöhen, die Seele mit Süßem zu trösten. Eine Studie der Universität Liverpool fand heraus, daß der Heißhunger auf Süßes gerade die emotionalen, aber auch kalorienbewußten Esser befällt.

Demgegenüber neigen, wie Psychologin Professor Gisela Gniech von der Universität Bremen erklärt, die "Sensationssucher" zu geschmacklich eindeutigen, also zu scharfen, salzigen und deftigen Speisen. Das heißt: Wer im Alltag starke Autos, schnelle Videospiele oder riskante Geschäfte braucht, setzt auch bei seiner Ernährung auf den Kick. "Zudem wurde beim Sensationssucher eine Tendenz eher zur ungesunden Nahrung gefunden", so Gniech. Starke und riskante Reize im Leben und auf dem Teller sind übrigens hauptsächlich bei Männern zu finden.

Auf gesundes Obst und Gemüse setzen hingegen laut einer holländischen Studie vor allem Menschen, die kompromißbereit und offen für neue Erfahrungen sind. Besonders Bananen essen sie gern. Ihr Innerstes geben diese Menschen jedoch nicht ohne weiteres preis. "Die extrovertierten Menschen fanden wir dagegen vor allem unter den Sportlern", so Studienleiter Gert-Jan de Bruijn von der Universität Maastricht. Der in sich gekehrte Mensch setzt also - passend zu seinem Charakter - eher auf das kulinarische Verinnerlichen, um sich gesund zu halten, während der extrovertierte lieber zum Joggen in den Park oder mit Skiern auf die Piste geht.

Wer beim Essen etwas über die Persönlichkeit seines Gegenübers erfahren will, sollte nicht nur auf das gucken, was er ißt, sondern auch darauf, wie er es tut. Wenn die einzelnen Bestandteile auf dem Teller akribisch voneinander getrennt werden, läßt dies auf einen pedantischen Charakter schließen - heiße Liebesnächte sind hier nicht zu erwarten. Allerdings ist es auch kein Zeichen von Wollust, wenn sich jemand auf seinem Teller alles durcheinandermischt nach dem Motto: "Kommt ja eh alles in einen Magen." Ein derartiger kulinarischer Brutalo-Mix läßt auf Unersättlichkeit und mangelndes Differenzierungsvermögen schließen - mit ihnen ist weder kulinarisch noch rhetorisch gut Kirschen essen.

Bleibt eine These zur Überprüfung offen, nämlich die mit dem Wein und der Sinnlichkeit. Tatsache ist, daß Weintrinker sich bei den Mahlzeiten viel Zeit nehmen und ihr Getränk in Ruhe genießen. Andererseits brillieren sie nicht zwangsläufig mit feinem Geschmack. Der französische Önologe Frédéric Brochet lud 54 Wein-Experten zur Rotweinprobe ein, wobei er ihnen heimlich einen weißen Tropfen kredenzte, den er zuvor rot eingefärbt hatte. Kein Experte entlarvte die Täuschung. In einem anderen Versuch kosteten sie von einem Durchschnittstropfen, der in einer Flasche mit teuer-edlem Etikett ausgeschenkt wurde. Die Tester überschlugen sich in ihren Lobeshymnen. "Man schmeckt eben", so Frédéric Brochet, "was man erwartet zu schmecken."


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3SAT:
Unsere Geschmacksentscheidungen sind auch beeinflusst durch die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Milieus, die die traditionellen Klassen abgelöst haben. Musikgeschmack und Lebensstil sind bei der Volksmusik ebenso ein Gesamtpaket wie bei den Besuchern der Wagner-Festspiele in Bayreuth. Milieu und Geschmack stehen in einem komplexen Verhältnis: "Man äußert die gleiche Geschmacksorientierung, weil man zu einer Gruppe gehören will und weil es Mode ist, dabei zu sein. So kommt es zur Vermischung: Die Basis der sozialen Identität ist nicht die eigene ästhetische Werthaltung, sondern die angestrebte Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Sie verführt uns, eine bestimmte ästhetische Werthaltung vorzutäuschen", so Rudolf Lüthe. Wie findet man also heraus, was wirklich der eigene Geschmack ist? Wenn Großproduzenten, Werbung, Massenmedien und Stars uns zeigen, was uns gefallen soll, ist es schwierig, sich den Suggestionen zu entziehen. Trotz allem, so Lüthe, sollten wir unsere ästhetische Bildung nicht den Marketingstrategen überlassen. Der Philosophieprofessor fordert: "Wir sollten uns klarmachen, dass wir uns auf Dauer schaden, wenn wir uns ständig mit Dingen beschäftigen, die uns nicht bekommen, sei es kulinarisch oder ästhetisch. Man sollte das ernst nehmen, genauso, wie man es ernst nimmt, ob man auf die Dauer Gift zu sich nimmt oder gutes Essen." Denn der Mensch ist, was er isst, aber er ist auch die Summe seiner ästhetischen Entscheidungen.

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